Aus dem Weltbild eines Fahrradhelmträgers

Das Schöne an Blogs ist, dass sie wie Reihenhaussiedlungen funktionieren. Jeder kann in seinem Vorgarten seine persönliche Form des Spießertums zelebrieren und die anderen für schlimme Spießer halten. Das tue ich jetzt auch. Die misslungene Helmdiskussion an anderer Stelle hatte ich bereits erwähnt, ihre Vorgeschichte nehme ich gleich noch mit dazu. Eigentlich gehört so etwas ignoriert, weil es sich um eine Glaubensfrage handelt. Da ich nun aber schon mal mitgemacht habe, lasse ich mir auch das Fazit nicht entgehen, denn das ist aufschlussreich. Ich fasse die Debatte mal aus Sicht der Gegenseite zusammen.

Wissenschaftliche Risikoanalyse:

  • »Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein Fahrradfahrer von einem Autofahrer angefahren wird und dabei mit dem Kopf auf dem Auto/Bürgersteig/Straße aufschlägt, halte ich alleine deswegen für relativ hoch, weil ich selbst bereits mehrfach auf meinem Rad fast umgefahren worden wäre und weil meinem Mann nach einem leichten Unfall eine Platzwunde am Kopf genäht werden musste.« [Hint: Wie tödlich war die Kopfverletzung des Gatten? Und wieso will es mit dem umgefahren werden einfach nicht klappen?]
  • »Passend dazu las ich vorgestern in der Zeitung von zwei Unfällen mit Fahrradfahrern. Dreimal dürft Ihr jetzt raten, welche Verletzungen sie davontrugen.« [Hint: Zeitung impliziert eine Vorauswahl und ist keine gute Datenquelle.]
  • »Tragt einfach den Helm.« [Hint: Durch »Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen« sterben mehr als 30000 Menschen im Jahr. Selbst ein perfekter Rundumlebensretter für Radfahrer würde gerade 2% davon retten. Ein typischer Radelhelm ist jedoch kein solcher.]
  • »Ich kaufe Frau Robinson jedenfalls nicht ab, dass sie auf weiter Flur die einzige ist, welche den Durchblick hat.« [Hint: Alfred Lothar Wegener]
  • »Tatsächlich erscheint mir diese Helmdebatte wie die alte Sicherheitsgurt-Debatte in einem neuen Gewand.« [Hint: beim Sicherheitsgurt gibt es ein erkennbares Wirkprinzip, und ohne Knautschzone wäre er Blödsinn.]
  • »Also, tut mir leid Leute, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin, dann ziehe ich mir einen Helm auf. Im Zweifelsfall ist dann zumindest mein wichtiges Körperteil gut geschützt.« [Hint: ein Fahrradhelm bedeckt vielleicht ein Drittel der Kopfoberfläche und mit Genickbruch, einer zersplitterten Rippe im Herzen oder ohne Blut im Kreislauf lebt es sich auch nicht besser als mit einer Platzwunde am Kopf.]
  • »Meine Recherche hat einfach ergeben, dass sehr viele Studien eine Verminderung des Verletzungsrisikos beim Tragen von Schutzhelmen belegen.« [Hint: Studien sind auch nur die halbe Wahrheit. Sie können nie das kritische Denken ersetzen. Eine Erklärung hier, Beispiel da.]
  • »Aber hey, Radfahren ist total ungefährlich. Nicht wahr? Ich fahre jeden Tag mit dem Rad rum und bin sicherlich in diesem Jahr zweimal fast umgefahren worden. Aber das geht wahrscheinlich nur mir so.« [Hint: Das geht tatsächlich nur Ihnen so, mir und vielen anderen nicht.]
  • »Aber normalerweise ist es so, dass die sehr schweren Unfälle sehr viel seltener sind als die leichten. Und bei den leichteren kann ein Helm durchaus was bringen.« [Hint: Leichte Unfälle kann ich alleine überleben.]
  • »… und vielen KFZ-Fahrern täte ein bisschen Verkehrserziehung sicherlich auch mal gut, wenn ich mir so ansehe, wie oft die Leute Radfahrer – sprich mich – übersehen.« [Hint: Wenn immer die anderen schuld sind, dann gibt es noch jemanden, dem ein wenig Verkehrserziehung nicht schadet.]
  • »Fahrradfahren ist also nicht gefährlich? Aha und das ist natürlich eine absolut rationale Risikoeinschätzung.« [Hint: Exakt.]
  • »Ich vermute, beim TÜV sitzen demnach auch nur Idioten, wenn Sie Helme empfehlen und anführen, dass bei 80% aller Radunfälle der Kopf in Mitleidenschaft gezogen wird.« [Hint: Zählen Sie Ihre Stürze. Dann die in ihrer näheren Umgebung. Kommen Sie irgendwo auf 80%? Der TÜV auch nicht, der zählt nämlich überhaupt keine Fahrradunfälle.]
  • »Ich verlasse mich darauf, dass Experten, die sich damit beschäftigen, sich dem Thema angenommen haben.« [Hint: Dann könnten Sie auch mir einfach glauben, ich bin Experte und beschäftige mich damit..]
  • »… und wenn die Mehrheit der Experten zum Ergebnis kommen, dass Helme was bringen und ich nichts finden kann, was dagegen spricht (…) ja dann erlaube ich mir die Schlussfolgerung, dass da was dran sein könnte und dass Leute, die viel Rad fahren, gut beraten sind, einen Helm zu tragen.« [Hint: Aber wenn andere was finden können, was dagegen spricht, dann zählt das nicht?]
  • »SIE tragen hier die Beweislast, zu zeigen, dass die Beweise, welche für den Helm angeführt werden, alle wertlos sind.« [Hint: Dass ein Fahrradhelm hülfe, ist eine Mindermeinung. Beweispflichtig ist derjenige, der ungewöhnliche Thesen vertritt. Eigentlich beweist man in der Wissenschaft aber gar nichts, sondern man versucht zu widerlegen.]
  • »Ein Rad ist im Durchschnitt mit etwa 15 km/h unterwegs.« [Hint: Und was hat die Durchschnittsgeschwindigkeit des Radfahrers a) mit der Aufprallgeschwindigkeit beim Sturz aus stets gleicher Fallhöhe und b) mit den Belastungen beim Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug zu tun?]
  • »Übrigens. Was haben eigentlich Radprofis auf dem Kopf, wenn die fahren?« [Hint: Radprofis und Rennveranstalter verdienen ihr Geld unter anderem mit Werbung, und der Helm hat die Sturzkappe abgelöst, die erkennbar lediglich auf die Vermeidung von Platz- und Schürfwunden bei einfachen Stürzen hin entworfen war. Diese Wirkung gestehe sogar ich dem Styroporhelm zu. Leben rettet er damit kaum.]
  • »… obwohl alle Naturgesetze dagegen sprechen …« [Hint: Fahrräder, Fahrradhelme, Straßenverkehr und Verkehrsunfälle sind keine Naturphänomene. Naturgesetze wiken sich auf die Risiken aus, bestimmen sie aber nicht alleine.]

Unwissenschaftlicher Unsinn:

  • Fahrradhelme sind bestenfalls Sturzhelme. Bei einem gewöhnlichen Sturz mit dem Fahrrad braucht man aber gar keinen Helm. Fahrradhelme sind konstruktionsbedingt nicht geeignet, bei schweren Unfällen nennenswerten Schutz zu bieten. Ein Großteil des Kopfes ist noch nicht einmal vom Helm bedeckt.
  • Die empirische Forschung als Teil der Wissenschaft bemüht sich, Daten unter kontrollierten Bedingungen zu gewinnen und diese Bedingungen zu dokumentieren. So gewonnene Daten bedürfen der Interpretation, wenn man sie auf reale Probleme anwendet.
  • Ziel der Verkehrssicherheit ist die Reduktion des Verletzungs- und Todesrisikos von Verkehrsteilnehmern. Unzählige Faktoren beeinflussen dieses Risiko.
  • Sicherheitsmaßnahmen können die Schadenswahrscheinlichkeit oder die Schadenshöhe reduzieren. Faustregel: die Schadenshöhe einer kleinen Teilmenge von Unfallverläufen [Hint: die 80% von oben sind frei erfunden, aber nicht von mir] geringfügig zu reduzieren ist dumm, wenn man mit gleichem Aufwand die Eintrittswahrscheinlichkeit insgesamt nennenswert reduzieren kann.
  • Es gibt keine aussagekräftigen Studien zur Helmwirkung bei Unfällen zwischen Radfahrern und Kraftfahrzeugen, die Fahrradhelmen eine Wirkung nachweisen.
  • Wer vom Fahrrad fällt, schlägt sich meistens das Knie oder den Ellbogen auf und wenn er Pech hat, bricht er sich das Handgelenk.
  • Es gibt unzählige Kopfverletzungen, die völlig harmlos sind. Es gibt allerlei Nichtkopfverletzungen, die tödlich sind.
  • Eine Risikobetrachtung muss stets das das Todes- und Verletzungsrisiko des einzelnen Radfahrers (ggf. gemessen am Umfang seiner Verkehrsteilnahme) zugrunde legen. Andere Größen mögen wissenschaftlich interessant sein, für den Verkehrsteilnehmer sind sie bedeutungslos.
  • Fahradhelme werden grandios überschätzt.
  • Wer in sechs Wochen zwei Beinahe-Unfälle erlebt, hat möglicherweise Potenziale, sein Unfallrisiko durch Veränderung seiner Fahrweise zu reduzieren.
  • Radfahren ist nicht besonders gefährlich.
  • Ein Helm, der Radfahrer beim Zusammenstoß mit einem Kraftfahrzeug nennenswert vor schweren Verletzungen schützt, würde auch Fußgänger beim Zusammenstoß mit einem Kraftfahrzeug nennenswert vor schweren Verletzungen schützen.
    • Im Jahr 2005 starben 686 von 34 602 verunglückten (und statistisch erfassten) Fußgängern, aber nur 575 von 78 434 verunglückten Fußgängern. Auf vergleichbare Fallzahlen normalisiert ist es also viel gefährlicher, als Fußgänger zu verunglücken.
    • Die Zahl der erfassten Verunglückten könnte verzerrt werden durch unterschiedliche Wahrnehmung der harmlosen Fälle: Fußgänger stolpern, stehen auf, gehen weiter; Radfahrer haben Unfälle, manchmal auch in ähnlich harmlosen Fällen.
  • Wissenschaftliche Publikationen haben es durch den Peer-Review-Prozess geschafft. Peer Review ist keine Wahrheitsprüfung, sondern ein Spamfilter.
  • Wissenschaft ist nur so gut wie die Fragen, die sie stellt. Daran ändert auch Statistik nichts.
  • Kreationisten sind immer die anderen.
  • Die möglichst exakte Nachahmung wissenschaftlicher Rituale genügt nicht. Man muss dabei auch noch nachdenken.
  • Wenn Ergebnisse nicht plausibel sind, dann können sie trotzdem falsch sein.
  • Statistik geht nicht immer.
  • Wissenschaft schützt vor Glauben nicht.

Hinterm Mond gleich links. Passt schon.

Ein Kommentar zu „Aus dem Weltbild eines Fahrradhelmträgers

  1. Mir fehlt vor allem ein Mindeststandard für Fahrradhelme wie es bei Motorradhelmen usus ist. Da wird der Käufer einfach allein gelassen. Bei vielen Modellen scheint mir das Design viel wichtiger gewesen zu sein als die Schutzwirkung. Die umschließen in vielen Fällen noch nicht einmal die komplette Hirnregion. Und ich würde mich auch nicht darauf verlassen, dass im Falle eines Falles der Helm nicht verrutscht oder die Riemen abreißen.

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