Kritischer Rationalismus, Eristische Dialektik und Cargo-Kult: warum Wissenschaftsglaube auch blöd ist

Ich bin Anhänger des kritischen Rationalismus oder halte mich jedenfalls für einen. Das merkt man vielleicht nicht sofort, weil ich außerdem auch meinen Schopenhauer gelesen habe, aber ich will trotzdem daran glauben. Der Wikipedia-Artikel ist sehr gut. Sie sollten ihn jetzt lesen, ich warte hier so lange. Den Schopenhauer können Sie kurz anschauen und für später bookmarken.

Wieder da? Gut. Wie schafft man es aus einer solchen Position heraus, von anderen für einen Spinner im Dunstkreis des Kreationismus gehalten zu werden? Eine Erklärung liefert Schopenhauer: wer in der Sache keine guten Argumente hat, kann immer noch versuchen, beim Publikum Punkte zu sammeln. Der Kreationismusvorwurf ist allerdings wegen allzu häufiger Verwendung nicht mehr besonders originell und man muss dabei aufpassen, dass man nicht eine Falle läuft und – wie hier – am Ende vorgeführt wird.

Die andere Erklärung liegt in unterschiedlichen Weltbildern. Der kritische Rationalismus ist komplex und bietet nicht immer die intuitive Sicherheit, die sich Menschen so gern verschaffen. Denken hilft, ist aber anstrengend und birgt die Gefahr des Irrtums. Einfacher hat man es, wenn man eben doch zum blind Glauben greift. Das Attribut blind ist wichtig, denn Glaubenssysteme vertreten wir letztlich alle. Wie Richard Dawkins zeigt, kann man das anerkennen und trotzdem leidenschaftlich den Rationalismus und Atheismus vertreten. Man darf sich die Welt nur nicht zu sehr vereinfachen.

Der erste Schritt zur Vereinfachung ist, dass man sich Erschütterungen vom Leib hält. Vorzüglich eignen sich dazu subtil fehlgeleitete Missverständnisse über die Methode wissenschaftlichen Tuns. Vor solchen Missverständnissen sind Wissenschaftler nicht gefeit. Im Gegenteil, weil sie so viele Regeln, Verfahren und Denkweisen der Wissenschaft beherrschen, laufen sie vielleicht sogar eher Gefahr, der Repräsentativitätsheuristik aufzusitzen und für wahr zu halten, was nur genügend Merkmale der Wissenschaft zeigt. Oft funktioniert diese Heuristik ja auch, sonst wäre sie keine, jedenfalls keine nützliche.

Aber sie kann eben auch scheitern und das muss man wissen und berücksichtigen, wenigstens leise im Hinterkopf. Wir erinnern uns, kritischer Rationalismus ist eine Lebenseinstellung, die den eigenen Irrtum als Möglichkeit nie völlig ausschließt. In einer öffentlichen Debatte würde man freilich nach Schopenhauer versuchen, dem Gegner das Eingeständnis dieser Möglichkeit abzutrotzen, ohne es selbst machen zu müssen. An dieser Lebenseinstellung sollten zitierbare Studien nichts ändern. Wissenschaftliche Studien und Veröffentlichungen können das eigene Denken nämlich bestenfalls unterstützen, aber sie sind keineswegs so über alle Zweifel erhaben, wie man sie als Argument gern hätte.

Was muss man wissen, wenn man mit Studien als Argument konfrontiert wird? Vieles:

  • Statistik ist ein Werkzeug, das manche Fragen gut beantwortet. Die Frage kann aber Blödsinn sein.
  • Die Wissenschaft strebt nach kontrollierten Randbedingungen, um die Wirkung einzelner Faktoren gut studieren zu können. So gewonnene Ergebnisse können in der komplexeren Realität irrelevant sein.
  • Statistische Aussagen über zu kleine Mengen sind regelmäßig unsinnig.
  • Signifikanztests, Peer Review und andere sinnvolle Rituale haben die Aufgabe, grobe Fehler und offensichtlichen Unsinn herauszufiltern. Das Passieren solcher Filter impliziert keine Korrektheit.
    • Korollar: Unsinn, der solche Filter passiert, ist also weniger offensichtlich Unsinn und man muss ihn umso kritischer prüfen.
  • Die wissenschaftliche Methode funktioniert als Prozess in einem statistischen Sinne. Auf lange Sicht liefert das System Wissenschaft mehr Erkenntnis als Unsinn. Die atomare Einheit Publikation hat diese Eigenschaften nicht. Jede Studie ist nur ein Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis (oder auch mal davon weg), aber nicht bereits die Erkenntnis selbst.
  • Die Art und Weise wissenschaftlichen Publizierens selbst kann falsche Eindrücke hervorrufen.
  • Wenn Wissenschaft und Alltagserfahrung einander widersprechen, kann das verschiedene Ursachen haben: die Erfahrung kann täuschen, die Wissenschaft kann einen (vielleicht nur subtil) anderen Sachverhalt betrachten, oder die Betrachtungsweisen und Bezugssysteme unterscheiden sich.
    • Beispiel: Wenn ich von der Erde aus beobachte, dass sich Planeten auf seltsamen, komplizierten Bahnen in wechselnder Richtung am Himmel bewegen, dann widerspricht das keiner Theorie über unser Sonnensyste und die Bewegung der Planeten.
  • Plausibilität kann täuschen, aber was nicht plausibel ist, ist manchmal auch einfach falsch.

Zu kompliziert? Tragt einfach den Helm und denkt nicht nach. Redet euch aber bitte nicht ein, dieser Wissenschaftsglaube sei in irgendeiner Hinsicht besser als andere Glaubenssysteme. Das ist er nicht, sondern er führt zu genau derselben engstirnigen, aus Angst ums eigene Weltbild geborenen Intoleranz wie jeder andere Glaube auch. Am Ende stehen immer die Scheiterhaufen, wenngleich wir auch auf dem Weg von der Ketzer- über die Bücherverbrennung hin zur Löschtaste für Blogkommentare doch erhebliche Fortschritte gemacht haben auf dem ganz unwissenschaftlichen Gebiet der Zivilisation.

Denken hilft.

PS: Ich habe diesen Text versuchsweise in eine atheistische Blogparade geworfen und bin jetzt wirklich gespannt auf die Reaktionen. Eigentlich sollten Atheisten ohne Orthodoxie auskommen und also damit ziemlich einverstanden sein, aber ich habe in Einzelfällen auch schon anderes erlebt.

5 Kommentare zu „Kritischer Rationalismus, Eristische Dialektik und Cargo-Kult: warum Wissenschaftsglaube auch blöd ist

  1. Hi Sven,

    vielen Dank für’s Mitmachen bei der Blogparade.
    Ich persönlich bin Wissenschaftlerin und als solche würde ich prinzipiell durchaus unterschreiben, was Du schreibst. Ich habe, vielleicht auch nur im Hinblick auf die Fahrradhelmdebatte, die ich verfolgt habe, höchstens ein Problem mit dieser Passage:

    An dieser Lebenseinstellung sollten zitierbare Studien nichts ändern. Wissenschaftliche Studien und Veröffentlichungen können das eigene Denken nämlich bestenfalls unterstützen, aber sie sind keineswegs so über alle Zweifel erhaben, wie man sie als Argument gern hätte.

    Während es natürlich unbestreitbar ist, dass eine wissenschaftliche Arbeit nicht über jeden Zweifel erhaben ist, nur weil sie eine wissenschaftliche Arbeit ist, ist deswegen nicht jede Studie in Zweifel zu ziehen. Es gibt tatsächlich auch Studien, an deren Durchführung auch nach kritischer Betrachtung nichts auszusetzen ist. Deren Ergebnisse muss man dann auch als Fakten in seine Überlegungen mit einbeziehen. Anders formuliert, man muss sich die genannten Studien auch tatsächlich ansehen, um beurteilen zu können, ob sie „beachtenswert“ sind oder nicht – und man muss, wenn man sie nicht als beachtenswert einstuft, auch Argumente anführen, warum sie es seiner eigenen Meinung nach nicht sind. Einfach von „Es gibt zweifelhafte Studien“ auf „Alle Studien sind grundsätzlich zu bezweifeln“ zu schließen und jedwede Ergebnisse zu ignorieren, die einem nicht in den Kram passen, ist hingegen nicht kritisches Denken, sondern intellektuelle Faulheit.
    MfG,
    JLT

  2. Das ist überhaupt nicht faul, denn dann kann man selbst ja auch keine Studien mehr zitieren und muss sich andere Argumente einfallen lassen. 🙂

    In der Tat teile ich die Ansicht, dass man sich die Studien eigentlich jeweils ganz genau ansehen müsste, und zu den Studien auch ihr wissenschaftliches Umfeld: woher kommen die angewandten Methoden, wie gut sind sie untersucht, beschäftigen sich genügend Wissenschaftler mit dem Thema, um die Überprüfung wahrscheinlich zu machen, und so weiter. Innerhalb eines Wissenschaftszweiges muss man das vielleicht noch nicht einmal explizit tun; der stochastische Prozess der Wissenschaft selbst sorgt auf lange Sicht bereits dafür, dass Irrelevantes untergeht und Relevantes überprüft, in Frage gestellt und ergänzt wird. Oder wir glauben das zumindest, denn die letztgültige Sicherheit, dass unser Überzeugung über den Erkenntniswert der Wissenschaft richtig ist, haben wir auch nicht. Das Dawkinssche »What if you’re wrong« gilt in seiner Grundsätzlichkeit für alle. Irgendwann stoßen wir einfach an argumentative Grenzen (und dann hilft der Schopenhauer weiter, weil seine eristische Dialektik sich einen Dreck um Logik und Erkenntnistheorie schert.)

    In der Praxis liegen die Grenzen aber ganz woanders. Der Beitrag hier ergab sich aus einem besonderen Kontext, nämlich aus einer Diskussion unter Laien. Laien in dem Sinne, dass keiner der Beteiligten zum diskutierten Thema selbst geforscht hätte. Fast alle Diskussionen dürften in diese Klasse fallen, denn jeder von uns ist in fast allen Fragen Laie. In dieser Situation aber, so vermute ich, spielen Heuristiken bei der Bewertung von Argumenten eine viel größere Rolle als die hehren Grundsätze wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Anders lassen sich das zur Verfügung stehende Material und die Komplexität der meisten Themen ja gar nicht bewältigen, gerade nicht in einer Alltagsdiskussion. Damit aber sind wir wieder beim Glauben, selbst wenn wir einander hochwissenschaftliche Studien an den Kopf werfen. Neben den üblichen kognitiven Heuristiken und einigen allgemein akzeptierten (Occam’s Razor zum Beispiel) bringt jeder – eine erneute Mutmaßung – seine ganz persönliche Ausstattung an erlernten Faustregeln mit.

    Gerade deshalb brauchen wir ja die Wissenschaft als subjektübergreifendes System, als fortlaufenden Prozess, weil jeder Einzelne in seinen Wertungs- und Erkenntnisprozessen viel zu unzuverlässig ist. Studien, zumal einzelne, sind aber nur Zwischenergebnisse in diesem Prozess. Auch wenn es unbequem ist, die Aussagekraft einzelner Studien halte ich für äußerst beschränkt. Das gilt ganz besonders für Statistikvoodoo, denn empirische Studien verketten zwei bedeutende Fehlerquellen: blödsinnige Fragestellungen und Fehlanwendung mathematischer Werkzeuge. Beide Klippen kann eine Studie umschiffen, aber jede einzelne darauf abzuklopfen, bevor man sie als Argument anführt, ist äußerst mühsam, zu mühsam für den Alltag. Und es nützt eigentlich auch nichts, wenn man sich nicht vorher geeinigt hat, was denn jetzt eigentlich zu beweisen sei.

    Meine persönlichen Heuristiken erkläre ich vielleicht ein andermal.

  3. Auch wenn es unbequem ist, die Aussagekraft einzelner Studien halte ich für äußerst beschränkt. Das gilt ganz besonders für Statistikvoodoo, denn empirische Studien verketten zwei bedeutende Fehlerquellen: blödsinnige Fragestellungen und Fehlanwendung mathematischer Werkzeuge. Beide Klippen kann eine Studie umschiffen, aber jede einzelne darauf abzuklopfen, bevor man sie als Argument anführt, ist äußerst mühsam, zu mühsam für den Alltag. Und es nützt eigentlich auch nichts, wenn man sich nicht vorher geeinigt hat, was denn jetzt eigentlich zu beweisen sei.

    Sicherlich ist es richtig, dass mit jeder weiteren wissenschaftlichen Arbeit, die das Gleiche zeigt, die Sicherheit wächst, dass das Gezeigte auch zutrifft (was nicht heißt, dass eine einzelne Studie, wenn sie „richtig“ durchgeführt wurde, einfach so abgetan werden kann – jedenfalls nicht, ohne Fehler in der Durchführung aufzuzeigen). Genauso richtig ist, dass es auch wissenschaftliche Arbeiten gibt, die methodisch nicht einwandfrei sind. Das ist trivial. Aber nur deswegen wissenschaftliche Arbeiten generell nicht als Argument zu akzeptieren, weil es einzelne Studien gibt, die methodisch nicht einwandfrei sind und es zu „anstrengend“ ist, sich kritisch mit mehreren Studien auseinander zu setzen – das ist meiner Meinung nach eben auch nicht alltagstauglich. Intuition kann täuschen, plausibel klingende Argumente können falsch sein, persönliche Erfahrungen sind nicht repräsentativ und wenn man erst mal eine bestimmte Überzeugung hat, dann „sieht“ man auch besonders häufig das, was mit dieser Überzeugung übereinstimmt. Darum wurde ja die wissenschaftliche Methodik „erfunden“, um die subjektive Wahrnehmung auszuschalten und objektive Ergebnisse zu erhalten.
    Wenn man sich nicht endlos Meinungen um die Ohren hauen will, dann muss man, wo es möglich ist, auf Fakten zurückgreifen und die findet man eben am ehesten in entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten. Dazu muss man nicht selber zu dem Thema geforscht haben – ich habe beispielsweise nie darüber geforscht, ob eine HIV-Infektion die Ursache für AIDS ist, trotzdem bin ich davon überzeugt. Ich kenne die meisten der Methoden, die eingesetzt wurden, um den kausalen Zusammenhang aufzudecken, ich kenne mich mit Statistik aus und insgesamt mit der wissenschaftlichen Arbeitsweise. Also kann ich sehr wohl beurteilen, ob die entsprechenden Arbeiten zu dem Thema den Zusammenhang plausibel belegen oder nicht, auch wenn ich streng genommen ein Laie bin.
    Das angeführte What if you’re wrong bezieht sich doch eher auf Fragen, die wissenschaftlich nicht wirklich zu klären sind. Ein Negativ-Beweis (Es gibt keinen Gott, um mal bei Dawkins zu bleiben) ist nicht zu führen. Aber es gibt eben auch das „Beyond reasonable doubt“, wie der bestehende Zusammenhang zwischen einer HIV-Infektion und AIDS.
    Das ist insofern ein gutes Beispiel, als es immer noch Menschen gibt, die diesen Zusammenhang nicht akzeptieren. Ich habe tatsächlich auch mal mit einigen Vertretern dieser Meinung „diskutiert“ – deren Argumente gegen einen Zusammenhang waren im Grunde alle Variationen von „Wissenschaftler können sich irren (oder täuschen absichtlich)“ und „wissenschaftliche Studien sind nicht zuverlässig“, aber sie haben sich nicht mit einer einzigen wissenschaftlichen Arbeit tatsächlich mal auseinandergesetzt.
    Sie haben sich selbst als kritisch denkend, gegen den Strom schwimmend und weiß der Geier was noch gesehen, in Wirklichkeit waren sie aber bloß ignorant.

    Deswegen nochmal: Es besteht ein Unterschied zwischen kritischem Denken und Ablehnung von wissenschaftlichen Arbeiten. Wenn man sich wirklich mit einem Thema kritisch auseinandersetzen will, führt kein Weg daran vorbei, sich die verschiedenen Argumente genau anzuschauen, also auch wissenschaftliche Studien. Hat ja keiner gesagt, dass das einfach wäre mit dem kritischen Denken…
    Ich persönlich finde es zudem weniger mühsam, mir ein paar Studien anzuschauen, als eine end- und fruchtlose Diskussion zu führen.

    MfG,
    JLT

  4. Doch, selbst eine gemessen an ihrer Fragestellung richtig durchgeführte Studie kann man noch abtun, ohne Fehler in ihrer Durchführung nachzuweisen. Nicht nach Belieben und ohne nachzudenken, aber begründet im Kontext einer konkreten Diskussion: wenn sie nämlich eine Frage beantwortet, die für die Diskussion oder für das einzelne Argument überhaupt nicht relevant ist oder wenn ihre Aussage(kraft) von Randbedingungen abhängt, die erkennbar im diskutierten Fall nicht vorliegen.

    Ein Musterbeispiel lieferte vor einigen Monaten die KiKK-Studie, die sich mit dem Leukämierisiko von Kindern in der Umgebung von Kernkraftwerken beschäftigte. Oder das war zumindest die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und der gedankliche Hintergrund, wie man an den Reaktionen unschwer erkennen konnte. Tatsächlich und nüchtern betrachtet hat sich die Studie jedoch weder mit Leukämie noch mit Kernkraftwerken wirklich beschäftigt und ihr lag auch keine Theorie oder Vermutung über konkrete Mechanismen zugrunde, mit denen Kernkraftwerke Leukämie bei Kindern auslösen könnten. Es gab also nicht einmal eine wie auch immer geartete Vorhersage, die die Studie hätte prüfen können. Sondern die KiKK-Studie hat nach meinem Verständnis eine vorher schon vorhandene Datensammlung besser beschrieben und ergänzt, und methodisch war es schnurzpiepegal, ob es um Leukämieerkrankungen in der Umgebung von Kerkraftwerken ging oder um Tollwuterkrankungen in der Umgebung von Wäldern. (Ja, das ist vereinfacht.)

    So etwas ist wissenschaftlich dennoch vollkommen korrekt und zulässig, zumal die Autorinnen und Autoren sowohl sorgfältig gearbeitet als auch die Aussagekraft ihrer Studie realistisch eingeschätzt haben. Trotzdem wurde in der öffentlichen Berichterstattung und Debatte die (wohl hier und da sehnsüchtig erwartete) Aussage in die Studie hineininterpretiert, jetzt sei die Gefährlichkeit bewiesen und man müsse die Kraftwerke jetzt schnellstens abschalten. Das war manch eines Diskutanten Schlussfolgerung aus einer in sich korrekten und sauberen Studie, die aber nun mal mit großem Aufwand bestenfalls 1,2 zusätzliche Fälle pro Jahr zeigen konnte — bundesweit, nicht etwa pro Kernkraftwerk.

    In solchen Debatten lege ich ehrlich gesagt größeren Wert auf meinen ganz unwissenschaftlichen, heuristischen Bullshitdetektor. Weil es da nämlich nur noch darum geht, beliebigen hinfantasierten Behauptungen mit dem Verweis auf eine durchaus wissenschaftliche Studie den Ruch der Unfehlbarkeit zu geben. So herum kann man eben auch glauben: indem man Veröffentlichungen aus der Wissenschaft als heilige Schriften missbraucht. Das ist sicher nicht der Wissenschaft vorzuwerfen, aber ich könnte mir vorstellen, dass (auch? gerade?) wissenschaftsaffinen Menschen ab und zu dieser Fehler unterläuft, einfach weil sie vielfach die Erfahrung gemacht haben, dass im Zweifel die Wissenschaft immer noch die besten Erklärungen liefert. Dass es tatsächlich so ist, will ich nicht behaupten; falls jemand nicht ausgelastet ist, kann er/sie/es ja ein Forschungsprojekt daraus machen.

    Wenn es Studien gibt, die die richtigen Fragen befriedigend beantworten, dann soll man sie lesen und von mir aus danach auch die Diskussion beenden oder auf verbleibende ungeklärte Punkte lenken. Wo das nicht der Fall ist, muss man aber auch den Schluss zulassen, dass das vorliegende Material zur vorläufigen Klärung nicht ausreicht. Inwieweit man solche Studien dennoch als Indiz wertet, muss jeder mit sich ausmachen. Sie reichen dann aber jedenfalls nicht mehr aus, um über jedes andere Argument erhaben zu sein und jeden Einwand unter Verweis auf die Macht der Wissenschaft abzuwimmeln. Da ungefähr verläuft aus meiner Sicht die Grenze zum Wissenschaftsglauben.

    Und wo man sich grundsätzlich auf die Wissenschaft verlässt, da darf man sich dennoch mit Gegenargumenten auseinandersetzen, wenigstens mit solchen, die nicht bereits vielfältig durchgekaut sind und die halbwegs konkrete Beobachtungen beschreiben oder relevante Versuche vorschlagen. Vielleicht lernt man ja Neues, und seien es nur die Gründe dafür, warum jemand ohne Schuld gute Argumente der Wissenschaft nicht nachvollziehen kann.

    Passt es so vielleicht? Ich schnitze ja selbst noch am Gedanken, beziehungsweise an der Antwort auf die Frage, was genau mich eigentlich stört.

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