Ahnungslose Mediziner oder Propaganda?

Wir haben Security Theater, der Straßenverkehr hat Helme für Radfahrer. Beide sind eng verwandt und werden auf dieselbe Art verkauft: mit Appellen an Affekte und an das oft falsche subjektive Risikogefühl. Der Verstand bleibt dabei so gründlich auf der Strecke, dass man sich fragt, was die Träger mit ihrem Styroporschälchen noch schützen wollen. Dabei ist die Verkaufsmasche so leicht zu durchschauen.

Die Pressemitteilung liest sich dramatisch:

»Mediziner machen sich für eine Helmpflicht für Radfahrer in Deutschland stark. Mit einem solchen Schutz ließe sich die Zahl gefährlicher Hirnverletzungen im Straßenverkehr deutlich reduzieren (…)«

und weiter:

»In Deutschland erleiden pro Jahr mehr als 300 000 Menschen ein Schädel-Hirn-Trauma. 15 000 von ihnen müssen intensiv stationär behandelt werden. Die Sterblichkeit sei bei diesen Patienten mit 30 bis 40 Prozent nach wie vor sehr hoch (…)«

Beim Abschreiben werden daraus auch mal 15000 Tote, so in der Leipziger Volkszeitung und der Sächsischen Zeitung. Dagegen also soll eine Helmpflicht für Radfahrer helfen. Wir rechnen nach.

Noch einmal die genannten Zahlen für ganz Deutschland:

  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT): 300.000 pro Jahr
  • davon Intensivstation: 15.000
  • davon wiederum tödlich: 30-40%, also ca. 5000

Außerdem brauchen wir noch eine Verkehrsunfallstatistik. Die gibt es beim Statistischen Bundesamt. Vorläufige Zahlen für 2006:

  • Verletzte insgesamt: 422.171
  • verletzte Radfahrer: 76.511
  • Tote insgesamt: 5.107
  • tote Radfahrer: 488
  • zum Vergleich tödliche Badeunfälle in Binnengewässern: 606

Was kann man daraus ablesen? Eine ganze Menge:

  1. Was auch immer man mit den Radfahrern macht, es wird auf 75% der SHT-Fälle (300.000 vs. 76.511) und auf 90% der dadurch verursachten Todesfälle (ca. 5000 vs. 488 ) garantiert keinerlei Auswirkungen haben – es gibt einfach nicht genügend verletzte und tote Radfahrer, um die Fallzahlen der Mediziner auszufüllen.
  2. Mit dem gesamten Verkehr als Bezugsgröße sieht es ähnlich aus. Auf ca. 82% der im Verkehr Verletzen (422.171 vs. 76.511) und auf ca. 91% der Getöteten (5.107 vs. 488 ) werden beliebige Maßnahmen am Radfahrer garantiert keinerlei Auswirkungen haben.
  3. Radfahren ist in der Summe ungefährlicher als das Baden in unbewachten Gewässern (488 vs. 606 ). Der Handlungsbedarf an dieser Stelle erschließt sich also nicht so recht, beziehungsweise ist nicht klar, wieso die Mediziner nicht das größere Problem zuerst angehen.
  4. Auf einmal sterben kommen für einen Radfahrer mehr als hundert polizeibekannte Unfälle mit Verletzung. Ein aufgeschlagenes Knie zählt hier nicht, denn damit ruft keiner die Polizei. Vielleicht bin ich ja ein Ausnahmefall, aber ich fahre jetzt seit einem Vierteljahrhundert Rad und hatte noch nie einen polizeilich erfassten Unfall.

Das ist alles nur ganz grob überschlagen bzw. verglichen. Wer es genauer wissen möchte, der sollte noch berücksichtigen:

  • Wie wirksam Radelhelmchen gegen SHT sind oder nicht sind. Schließlich bedecken sie nur ca. 20% des Kopfes und werden keinen in bezug auf Unfälle relevanten Tests unterzogen.
  • Wieviele Verletzungen und Todesfälle Helme ihrerseits verursachen. Bekannt ist etwa, dass sich hin und wieder Kinder strangulieren, die mit Helm auf Klettergerüsten herumturnen. Weniger gut untersucht ist die Risikokompensation des Trägers, der mit Helm vielleicht riskanter fährt.
  • Dass einige der oben gezählten Unfallopfer gewiss einen Helm trugen.
  • Dass es neben dem SHT eine Reihe anderer möglicher Todesursachen gibt, die im Unfallgeschehen auch eine Rolle spielen.

Die Bilanz wird dann noch verheerender ausfallen als oben skizziert. Eine Helmpflicht für Radfahrer ist ungeeignet, die Zahl der SHT-Fälle oder jene der dadurch Getöteten nennenswert zu reduzieren. Diese Erkenntnis kann sich jeder durch Anwendung elementarer Kulturtechniken verschaffen – nur unsere Mediziner offenbar nicht. Oder wollen sie das gar nicht wissen?

Nachtrag: »60 Prozent aller Unfälle geschehen im Haushalt. 80 Prozent davon sind Stürze, und davon ereignen sich bundesweit rund 1000 am Tag. Schlimm: Im Schnitt 6500 Haushalts-Unfälle pro Jahr enden tödlich.« (gefunden hier, Hervorhebung von mir)

Völlig unverständlich, wieso niemand eine Helmpflicht für Reihenhausmuttis und Wochenendheimwerker fordert. Öffentliches Rätselraten über die Motive im allgemeinen und diese Medienaktion im Speziellen findet sich auch im Usenet in de.rec.fahrrad, ebenso ähnliche Betrachtungen über andere dubiose Studien, Meldungen und Beiträge.

Ein Kommentar zu „Ahnungslose Mediziner oder Propaganda?

  1. Touché, PR-technisch aber wunderbar umgesetzt. Frei nach der alten chinesischen Leitlinie „dem Nichts einen Namen geben“. Und das mit den Badeseen ist überhaupt echt spannend, der DLRG hat da jünst erstaunliche Zahlen veröffentlicht. Gehen die Kinder heute nicht mehr in Schwimmkurse?

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